Transkript: Feministische Wirtschaft – wie zwei Unternehmen Dinge einfach mal anders machen

00:00:00 Elisa Naranjo: Also ja, ich glaube, die größte Herausforderung wäre wirklich, dass diese Maxime, dass Gewinn über allem steht und das das einzige ist, was wir messen, dass man das anfängt infrage zu stellen.

00:00:12 Musik

00:00:30 Susanne Klingner: Hallo, hier ist die zweite Folge von zeitgerecht, dem Podcast von Oxfam. Hier sprechen wir über Ungleichheit und Feminismus. Ich bin Susanne Klingner und in dieser Folge wollen wir der Frage nachgehen, was die weltweite Benachteiligung von Frauen eigentlich mit unserem Wirtschaftssystem zu tun hat. Wenn Frauen fast überall auf der Welt wirtschaftlich schlechter gestellt sind als Männer, gibt es da vielleicht einen Fehler im System? Und wenn ja, was können wir anders machen?

Für diese Folge haben wir daher mit zwei Frauen gesprochen, die ganz anders arbeiten, als wir das zum Beispiel so gewohnt sind. Und das ziemlich erfolgreich. Die eine ist Elisa Naranjo, sie arbeitet bei Einhorn und das Arbeitsumfeld dort, klingt für die meisten wohl ziemlich utopisch.

00:01:18 Elisa Naranjo: Wir haben super flexible Arbeitszeiten, du kannst kommen und gehen wann du willst, du kannst, ja jetzt mit Corona natürlich sowieso aber auch so, arbeiten von wo du willst, ob das jetzt, keine Ahnung, in dem Haus am See ist oder in einem Café. Oder wann du arbeiten willst, das ist alles quasi nicht vorgegeben.

00:01:38 Susanne Klingner: Und dann sprechen wir noch mit Mirai Chatterjee, die Arbeit ganz anders erlebt.

00:01:43 Dr. Mirai Chatterjee: Wie in jedem Land bekommen Frauen die schlechteste Arbeit. Es gibt eine klare Überschneidung zwischen Informalität, Armut und Geschlecht. Frauen sind unverhältnismäßig häufig die Ärmsten der informellen Arbeiter*innen. Und wie gesagt, sie bekommen die schlechteste und gefährlichste Arbeit.

00:02:07 Susanne Klingner: Was Mirai beschreibt, ist ein globales Problem. Von Mirai und Elisa hören wir später nochmal mehr. Aber zunächst einmal sprechen wir mit Ellen Ehmke. Ellen arbeitet bei Oxfam, als Analystin zum Thema soziale Ungleichheit. Sie hat uns nochmal genauer erklärt, welche Unterschiede wir zwischen Frauen und Männern in unserem Wirtschaftssystem beobachten können.

00:02:29 Dr. Ellen Ehmke: Ja, also ein Punkt, an dem wir sehen, dass es eine große Ungleichheit zwischen Männern und Frauen gibt, sind eben Einkommen. Im weltweiten Durchschnitt verdienen Frauen rund 23% Prozent weniger als Männer. Und Frauen sind auch viel häufiger in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen. Also in Deutschland wären das zum Beispiel Minijobs, aber global gesehen sind das vor allem Jobs im informellen Sektor, also die ganz ohne soziale Absicherung sind.

Das führt in der Summe dazu, dass Frauen auch weniger Vermögen haben, also sie verdienen weniger, haben deswegen weniger Möglichkeit Vermögen aufzubauen und Frauen sind sehr viel schlechter sozial abgesichert. Also viel weniger Frauen als Männer bekommen überhaupt eine Rente und wenn sie eine Rente bekommen, ist die Rente von Frauen meistens deutlich niedriger.

00:03:24 Susanne Klingner: Aber warum sind es ausgerechnet Frauen, die benachteiligt sind? Dafür lohnt sich ein genauerer Blick auf unser Wirtschaftssystem. Aber was ist das eigentlich, das Wirtschaftssystem?

00:03:36 Dr. Ellen Ehmke: Das bezeichnet eigentlich die Art und Weise in der Güter, wie Autos aber auch Mehl und Milch und Dienstleistungen, wie Haare schneiden oder Häuser planen, hergestellt werden oder verteilt werden. Und es umfasst damit sozusagen alles vom Abbau von Rohstoffen, in entfernten Ländern zum Teil, deren Transport, deren Weiterverarbeitung bis hin, dass dann aus diesen Rohstoffen irgendwann ein Handy hergestellt wird und es bei uns auf der Ladentheke liegt und gekauft wird.

Also das ist erstmal das Wirtschaftssystem und eine wichtige Rolle dafür, ob überhaupt etwas angeboten wird und wie es verteilt wird, spielt der Wert, der einem Produkt oder einem Dienst beigemessen wird. Und die wichtigste wirtschaftliche Kennzahl für, also in der Gesamtwirtschaft, einer Volkswirtschaft, ist das Bruttoinlandsprodukt und das ist die Summe aller gehandelten Waren, die in einem Land für Geld gehandelt werden. Und das Bruttoinlandsprodukt, das kennen wir ja als etwas, woran letztlich das Wohlergehen unserer Volkswirtschaften festgemacht wird.

Und dann ist die Frage, wie benachteiligt jetzt also so dieses System, was so allumfassend ist, Frauen? Und ein ganz zentraler Punkt dabei ist, dass eben nur gegen Geld gehandelte Waren und Dienstleistungen Eingang in unsere Messung von Wirtschaftsleistung findet.

Was also nicht gezählt wird in der Wirtschaft sind Sachen, die nicht bezahlt werden, also alle Arbeiten, die im Haus anfallen, kochen, putzen, waschen, Kinder erziehen, ältere Menschen pflegen. Im globalen Süden kommt dazu noch Wasser holen, Feuerholz holen, solche Aktivitäten. Und diese Arbeit wird eben weltweit zu drei Vierteln von Frauen geleistet und gleichzeitig eben nicht bezahlt. Und deswegen wird ein ganz großer Teil der Arbeit, die von Frauen geleistet wird, in unserem Wirtschaftssystem überhaupt nicht gesehen.

00:05:48 Susanne Klingner: Das BIP legt also fest, was in unserem System Wert hat und was nicht.

Und wir gehen davon aus, dass es unserer Wirtschaft und damit auch uns als Gesellschaft gut geht, wenn das BIP möglichst hoch ist. Jede Arbeit, die nicht bezahlt wird, kommt hier aber gar nicht vor.

Das heißt, unbezahlte Care-Arbeit wie Kochen, Putzen oder Kindererziehung, die eben größtenteils von Frauen gemacht wird, wird in diesem System ignoriert. Obwohl unsere Gesellschaft ohne sie gar nicht funktionieren würde. Klingt nach einem Fehler im System, oder?

00:06:22 Musik

00:06:29 Susanne Klingner: Unternehmen sind also in der Regel darauf ausgerichtet Umsatz und Profit möglichst zu maximieren. Wie es aussehen kann, wenn man das infrage stellt, zeigt uns Einhorn. Sie verkaufen nachhaltige und fair produzierte Kondome und Periodenprodukte.

Mit Elisa Naranjo haben wir darüber gesprochen, was Einhorn denn konkret anders macht.

Elisa ist bei Einhorn verantwortlich für Fairstainability und New Work. Das heißt, sie achtet darauf, dass alle Prozesse bei Einhorn fair und nachhaltig gestaltet sind. Also dass keine Menschen ausgebeutet werden und die Umwelt nicht zerstört wird. Sie beschäftigt sich aber auch damit, wie sie die Zusammenarbeit in ihrem Unternehmen in Berlin anders gestalten können.

00:07:12 Elisa Naranjo: Und dann haben wir halt einen Gehaltsrat gegründet, der demokratisch gewählt ist. Das heißt, man kann sich da selbst reinwählen lassen und der etabliert quasi ein Gehaltssystem, was sich für alle fair anfühlt. Da kann man A selbst reingehen, weil man sich ja natürlich aufstellen lassen kann und sich wählen lassen kann. Und B ist diese Rolle von diesem Gehaltsrat nicht geknüpft an irgendwie eine Hierarchie, wo man dann sagt, oh mit dem muss ich mich gut stellen, weil die Person bestimmt über mein Gehalt. Und das glaube ich entzerrt so ganz viel von diesem Machtgefälle, was so in anderen Unternehmen herrscht.

Und wir haben auch zusammen beschlossen, dass wir natürlich wollen, dass das Gehalt für uns transparent ist, intern. Dann haben wir so viel Urlaub, wie wir wollen und ja im Grunde genommen haben wir halt gar keine Vorgaben. Also das klingt voll utopisch aber für uns ist das jetzt so, mittlerweile so, Normalität, deshalb fällt mir das auch immer ein bisschen schwer zu sagen, was wir jetzt alles konkret machen.

00:08:15 Susanne Klingner: Wow, so viel Urlaub wie man will, arbeiten von überall, das Gehalt wird demokratisch bestimmt und alle wissen wie viel die Kolleg*innen verdienen. Für viele von uns mag es tatsächlich ganz schön utopisch klingen. Ist es ja irgendwie auch, aber für Elisa ist es Alltag.

Wie ist das überhaupt möglich?

00:08:33 Elisa Naranjo: Also wir gehören jetzt seit Dezember uns selbst. Das heißt, wir haben keine Investoren drin. Wir haben eigentlich niemanden drin der sagt, ja ihr müsst das oder das machen oder das und das sind die Kennzahlen, die ich einmal im Quartal von euch haben will. Das heißt, wir haben die unglaublich große Freiheit, nur uns selbst Rechenschaft zu geben und können dadurch auch ganz viel experimentieren und ja wirklich eigentlich alles infrage stellen. Dadurch, dass wir natürlich, zum Beispiel keine Zielvorgaben haben und auch generell keine Konkurrenzkultur oder ja eine Druckkultur, wo halt irgendwie von oben irgendwas vorgegeben wird, was man dann bis dann und dann erreichen muss, glaube ich, gibt's bei uns wirklich die Freiheit, sich viel mehr Urlaub zu nehmen, als das jetzt, ja, ich glaube, bei einer Unternehmensberatung, wenn die das einführen würden, würde da am Ende gar keiner einen Urlaubstag nehmen.

00:09:26 Susanne Klingner: Bei Einhorn geht's allerdings nicht nur um die Arbeitsbedingungen der Mitarbeiter*innen hier in Deutschland. Für die Herstellung ihrer Produkte spielen globale Lieferketten eine zentrale Rolle. Was machen sie hier also grundsätzlich anders?

00:09:40 Elisa Naranjo: Was wir eben versuchen, ist A erstmal diese ganzen Systeme und Strukturen und so zu verstehen. Und dann auch, okay, was heißt denn da drin eigentlich Fairstainability? Weil zum Beispiel, wir haben dann geguckt, okay, wir wollen natürlich, dass die auch aus Bio-Baumwolle sind, die Periodenprodukte, haben aber festgestellt, natürlich, dass Bio nichts mit Fairness zu tun hat. Der höchste Biostandard hat nichts mit Fairness zu tun, in unserem Sinne. Es sind Mindeststandards aber ist noch lange nicht fair.

Was wir quasi machen ist, dass wir so eine Premiumpreisstruktur haben. Und natürlich irgendwie in Dialog gehen mit den Bauern und Bäuerinnen und fragen, okay, was fühlt sich eigentlich für euch fair an? Und das ist, glaube ich, auch so ein ganz anderer Fairstainability-Ansatz, zu so eben normaler Nachhaltigkeitsansatz, wo, sehr viel, glaube ich oft, hier im globalen Norden entschieden wird, ohne so unbedingt der Einbeziehung der Leute im globalen Süden. Und das versuchen wir eben anders zu machen, dass wir halt so sagen, so okay, was braucht ihr eigentlich, was fühlt sich für euch fair an, was sind eure Herausforderungen und wollt ihr überhaupt mehr Geld oder wollt ihr vielleicht mehr Freizeit? Also so diese ganzen Sachen versuchen wir so ein bisschen vor Ort umzusetzen und dann gemeinsam Lösungen zu finden.

Genau, bei den Rohstoffen, vielleicht, was wird uns da angeguckt haben ist, okay, was würde denn eigentlich Fairness dort bedeuten? Und jetzt sowohl bei der Baumwolle, als auch bei Kautschuk, schaffen wir gerade eine Abnahmegarantie. Das heißt, die Bauern oder Bäuerinnen können gesichert ihren Kautschuk oder ihre Baumwolle abgeben, kriegen dafür einen Premiumpreis und das ist natürlich eine unglaubliche Sicherheit und so funktioniert halt normalerweise Weltmarkt gar nicht.

00:11:26 Musik

00:11:46 Dr. Mirai Chatterjee: Mahatma Gandhi hat immer gesagt, wenn du eine Aktion für sozialen Wandel planst, stelle immer die Ärmsten, Schwächsten und Gefährdetsten in den Mittelpunkt all deiner Bemühungen. Und wer sind die Ärmsten und Gefährdetsten? Nun, natürlich die Frauen Indiens, die Arbeiterinnen Indiens.

00:12:07 Susanne Klingner: Schauen wir nun also nach Indien zu Mirai. Mirai Chatterjee ist Vorsitzende der SEWA Cooperative Federation, die sich bereits seit 50 Jahren dafür einsetzt, die Arbeitsbedingungen von Frauen nachhaltig zu verbessern. Angefangen hat SEWA, die Self-Employed Women’s Association, als Gewerkschaft, in der heute 1,8 Millionen informelle Arbeiterinnen organisiert sind. Außerdem unterstützt SEWA Frauen bei der Selbstorganisation, um sich nachhaltige Einkommensmöglichkeiten zu schaffen. So hat SEWA beispielsweise die erste eigene Bank für Frauen ins Leben gerufen und unterstützt viele weitere, von Frauen geführte, Kooperativen, vom Kunsthandwerk über Kindergärten bis zur Landwirtschaft. Wie versucht also SEWA sozialen Wandel zu erreichen?

00:12:56 Dr. Mirai Chatterjee: Also der wichtigste und entscheidendste Baustein in der Arbeit mit Frauen in Indien, den wir gefunden haben, ist das Organisieren. Organisieren ist der Prozess Frauen verschiedener Kasten, Gemeinschaften, Religionen, Ethnien, Orte und Sprachgruppen zusammenzubringen. Dabei geht es um den Aufbau ihrer Solidarität, den Aufbau ihres Zusammenhalts und den Aufbau ihrer Geschlossenheit. Wir haben gelernt, dass dies der erste und entscheidende Schritt ist, wenn wir sozialen Wandel erreichen wollen.

00:13:33 Susanne Klingner: Die Selbstorganisation in Gewerkschaften und Kooperativen ist also der erste Schritt für die Frauen, um sich aus ihrer Situation zu befreien. Doch anstatt sich in möglichst großen Organisationen zusammenzutun, setzt SEWA ganz bewusst auf dezentrale lokale Strukturen.

00:13:50 Dr. Mirai Chatterjee: Und der andere Grund, warum wir Dezentralisierung bevorzugen, ist, dass dann kleinere Gruppen von Frauen die Kontrolle haben. Und diese Kooperativen fungieren auch als Laboratorien für Demokratie und Organisieren. Immer mehr Frauen können die Führung übernehmen, anstatt wenn eine große Organisation von einer Person geführt würde. Es gibt viele kleine Organisationen, die alle mitgliederbasiert und demokratisch sind. Es sind alles Organisationen von Arbeiterinnen und alle werden von Frauen geführt. Es ist also auch für Frauen eine Chance Führung zu übernehmen, Führungsqualifikationen aufzubauen, ihren eigenen Führungsstil zu entwickeln und zu stärken und den Prozess sozialen Wandels so in ihren Gemeinden, in ihren Dörfern und in ihren Familien zu beginnen.

00:14:51 Susanne Klingner: Heißt das also, dass die wirtschaftliche Selbstorganisation der Frauen auch eine Auswirkung auf die Gesellschaft außerhalb der Kooperativen hat?

00:15:00 Dr. Mirai Chatterjee: Auf jeden Fall, denn wenn Frauen anfangen ihre eigenen Organisationen zu leiten, wenn sie beginnen, eine Führungsrolle zu übernehmen, wenn sie die Finanzen ihrer Kooperative verwalten, wenn sie anfangen mit Geld umzugehen, dann sehen wir eine komplette Veränderung. Frauen, die nach unten blickten, schauen einem plötzlich in die Augen. Sie fühlen sich selbstbewusst und sind gestärkt. Und dieses neue Selbstvertrauen, dieses neue Wissen und diese neuen Fähigkeiten und dieses neue Gefühl von Empowerment, bringen die Frauen in jeden Aspekt ihres Lebens ein.

00:15:41 Susanne Klingner: Im Zentrum der Arbeit von SEWA stehen Frauen, die im informellen Sektor arbeiten. Zum informellen Sektor gehören zum Beispiel Verkäufer*innen auf Märkten oder Heimarbeiter*innen, die Produkte zu Hause herstellen und dann verkaufen. Diese Menschen arbeiten nicht in formalisierten Arbeitsverhältnissen. Die Arbeit im Informellen wird nicht in offiziellen Statistiken erfasst. Menschen, die im informellen Sektor arbeiten, sind in der Regel sozial nicht abgesichert, zum Beispiel wenn sie krank sind und sie erhalten im Alter auch keine Rente.

00:16:13 Dr. Mirai Chatterjee: Das Problem mit der Arbeit im informellen Sektor ist, heute bekomme ich Arbeit, morgen bekomme ich keine Arbeit. Oder heute arbeite ich für eine Person, morgen arbeite ich für jemand anderen. Es gibt überhaupt keine Arbeits- oder Einkommenssicherheit. Dabei ist das gesamte Leben der Frauen darauf ausgerichtet, Arbeits- und Einkommenssicherheit zu finden.

Deshalb würde menschenwürdige Arbeit erst einmal Arbeits- und Einkommenssicherheit und überhaupt, geregelte Arbeit während des ganzen Jahres, bedeuten. Zweitens würde es soziale Absicherung bedeuten. Wir sprechen hier also von grundlegenden Bedürfnissen für alle Menschen, um ein menschenwürdiges Leben zu führen.

00:16:53 Susanne Klingner: Das Thema soziale Absicherung spielte auch in unserem Interview mit Elisa eine Rolle. Was sie selbst im ersten Moment überrascht hat.

00:16:59 Elisa Naranjo: Was ist eigentlich ein fairer Lohn für die Mitarbeitenden? Und da haben wir auch Workshops gemacht, also was verbindet man eigentlich zum Beispiel mit Geld, was fühlt sich fair an? Wovor hat man auch Angst, wenn es ums Thema Gehalt geht. Und da habe ich tatsächlich mal einen Genderunterschied bemerkt, sonst bemerke ich den bei uns im Unternehmen eigentlich nicht, aber dass viel mehr Frauen, glaube ich, bei uns im Team gesagt haben, sie haben Angst vor Altersarmut, beziehungsweise sie, das Thema Gehalt, sollte irgendwie Vorsorge leisten. Und das war bei den Männern irgendwie gar kein Thema, was ich irgendwie ganz interessant fand.

00:17:37 Susanne Klingner: Dass die Angst vor Altersarmut bei Frauen in der Regel präsenter ist als bei Männern, hängt sicherlich auch mit einem ganz anderen Aspekt von Arbeit zusammen, der unbezahlten Care-Arbeit. Also all der Arbeit, die im Haushalt anfällt, die Pflege von Angehörigen oder Kinderbetreuung. Denn diese Arbeiten werden nach wie vor größtenteils von Frauen erledigt. In der Arbeit von SEWA sind sie daher ein zentraler Aspekt.

00:18:00 Dr. Mirai Chatterjee: Unbezahlte Care-Arbeit war schon immer ein äußerst wichtiges Thema im Leben unserer Mitglieder. Ich meine, sie kümmern sich ja nicht nur um ihre Kinder, sondern auch um pflegebedürftige Menschen in der Familie und um ältere Menschen. Wir haben von Anfang an bestimmte Maßnahmen ergriffen, zum Beispiel, indem wir eine kooperative für Kinderbetreuung organisiert haben. So wurde gemeinsam Vollzeit-Kinderbetreuung organisiert. Und wenn ich von unserer Betreuung spreche, dann meine ich, die Zentren selbst werden von informellen Arbeiterinnen geleitet. Und diejenigen, die sich um die Kleinkinder kümmern, erhalten ein Einkommen von der Kooperative.

Wir haben uns auch mit den Männern in den Familien unserer Mitglieder befasst. Das ist für uns eine Premiere, es ist ziemlich ungewöhnlich. Sie kommen und setzen die Kinder ab, sie holen sie ab, sie kommen zu Treffen, sie verfolgen die Fortschritte ihres Kindes. Und ich muss sagen, dass wir eine sehr positive Resonanz erhalten. Denn ich glaube, wenn man sich um das kümmert, was den Menschen, den Eltern, am wichtigsten ist, nämlich ihre Kinder, dann sind sie bereit, dir bei allem zuzuhören. Und dies ist eine konkrete Entlastung, sodass sowohl Väter als auch Mütter froh sind, diese Unterstützung zu haben.

00:19:21 Susanne Klingner: Auch in der Unternehmenskultur von Einhorn ist Familie ein zentraler Wert. Das spiegelt sich zum Beispiel in ihrem Gehaltsmodell wider.

00:19:29 Elisa Naranjo: Mit Geburt eines Kindes kriegt man bei uns 400 Euro netto mehr. Genau und was total oft eigentlich nicht dazu führt, dass man wirklich diese 400 Euro netto mehr nimmt, sondern eigentlich eher in der Tendenz dazu führt, dass die Leute Vollzeit gearbeitet haben und dann ungefähr bei gleichem Gehalt auf 80% runtergehen können, aber genauso Frauen wie Männer. Also ich glaube, wir haben alle so ein ähnliches Wertekonstrukt bei Einhorn, dass auch die Männer genauso viel von der Care-Arbeit in den Beziehungen übernehmen, wie die Frauen. Oh Gott, wenn das jetzt die Frauen von den Männern hören, sagen die nein!

00:20:07 Susanne Klingner: Obwohl Einhorn und SEWA also in ganz unterschiedlichen Ländern mit verschiedenen Arbeitsbedingungen und öffentlicher Infrastruktur zu Hause sind, sind mehrere Aspekte für beide besonders wichtig: Gerechte und ausreichend hohe Löhne, soziale Sicherheit sowie eine faire Verteilung von Care-Arbeit, sowohl innerhalb der Paare als auch zwischen Familie und Staat. Davon profitieren am Ende nicht nur Frauen, sondern auch Männer. Gleichzeitig haben beide die Erfahrung gemacht, dass man als Organisation oder Unternehmen mit einem anderen Anspruch, auch an Grenzen stößt. Mirai ist das während des Lockdowns in Indien, zu Beginn der Corona Pandemie, besonders aufgefallen.

00:20:47 Dr. Mirai Chatterjee: Wir leben nach wie vor in einer zutiefst patriarchalischen Gesellschaft und in einer Kultur und Wirtschaftsordnung, die nicht auf die Armen ausgerichtet ist oder zum Vorteil der Armen ist. Die informellen Arbeiterinnen und Arbeiter machen 93% aller Arbeitskräfte in Indien aus. Doch als die Corona Pandemie ausbrach und es Lockdowns gab, hat sich niemand an sie erinnert. Erst viel später wurde versucht, sie zu unterstützen. Das ist nur ein kleiner Indikator dafür, wie viel mehr wir tun müssen und welche Art von strukturellen Veränderungen erforderlich sind.

00:21:30 Musik

00:21:38 Susanne Klingner: Wie muss denn dann ein Wirtschaftssystem aussehen, dass für alle Geschlechter funktioniert? Welche Veränderungen sind eigentlich notwendig, damit unser Wirtschaftssystem Frauen nicht mehr benachteiligt? Diese Frage haben wir auch Ellen gestellt.

00:26:12 Dr. Ellen Ehmke: Das ist eins, das anerkennt, dass Fürsorgearbeit eine ganz wichtige menschliche Tätigkeit ist, die von Männern wie Frauen, gleichermaßen ausgeübt werden kann und sollte. Letztlich brauchen wir ein Wirtschaftssystem, was allen die Möglichkeit bietet Erwerbsarbeit oder Arbeit, für die wir Einkommen erhalten, zu kombinieren mit Fürsorgearbeit. Und dafür brauchen wir Veränderungen in den Einstellungen und Stereotypen. Dass wir sagen, alle sollen die Möglichkeit haben und auch Verantwortung übernehmen für Fürsorgearbeit. Wir brauchen Veränderungen in Betrieben und wir brauchen Veränderungen auf der Ebene von Infrastruktur und Gesetzen. Im Moment ist es so, dass zum Teil Arbeitgeber ja auch denken, dass sie eine junge Frau nicht einstellen, weil sie denken, diese junge Frau fällt vielleicht aus, weil sie Kinder erziehen will. Und an dem Punkt müssten wir eigentlich dahin kommen, dass Arbeitgeber genauso davon ausgehen, dass das Männern passieren kann, weil auch sie ausfallen von der „produktiven Arbeit“, weil sie Verantwortung übernehmen für Fürsorgearbeit. Und gleichzeitig bräuchten wir natürlich ein Ausbau der Infrastruktur für die Betreuung von Kindern, die es dann auch allen Eltern wieder ermöglicht, ab einem bestimmten Zeitpunkt, einer Erwerbsarbeit nachzugehen.

Und damit sind letztlich schon zwei Sachen angesprochen, also dass es um eine Umverteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit geht, sowohl innerhalb von Haushalten, also zwischen Männern und Frauen meistens und zwischen Haushalten und der öffentlichen Infrastruktur. Das sind sozusagen diese konkreteren Ebenen und auf so einer abstrakten Ebene ist es aber auch wichtig, dass sozusagen diese Frage, was misst eigentlich das Wirtschaftssystem, dass wir auch dort ansetzen. Und dass wir, anstatt mit dem BIP immer nur zu messen, was eben diese bezahlten Arbeiten und Dienstleistungen sind und wie die zur Wirtschaft beitragen, dass wir dahin kommen auch den Wert von bisher unbezahlter Arbeit anzuerkennen und dort die Arbeit und aber auch Umweltkosten einbeziehen.

00:24:25 Susanne Klingner: Es geht also tatsächlich ums große Ganze. Was heißt das denn aber jetzt konkret, wie können wir diesen Wandel herbeiführen? Für Mirai kann er nur aus einer breiten Bewegung aus der Bevölkerung heraus hervorgehen.

00:24:37 Dr. Mirai Chatterjee: Ich glaube, eines der Dinge, die wir im Laufe der Jahre gelernt haben, ist, Wandel und Strukturwandel brauchen mehrere Dinge, die gleichzeitig getan werden müssen. Eines davon ist sich zu organisieren, Menschen zusammenzubringen, ihre Gemeinschaft und Solidarität zu stärken und eine Bewegung aufzubauen. Es braucht eine Massenbewegung von unten. Es gibt keine Abkürzung, man muss an der Basis beginnen. Aber unserer Erfahrung nach kommt ein politischer Wandel nur dann, wenn es eine Bewegung gibt. Und wenn man dann von unten auf den Gesetzgeber und die politischen Entscheidungsträger*innen Druck aufbaut. Politik und Strukturwandel kommt nicht einfach so von selbst.

Ich denke, eines der größten Probleme, mit denen wir konfrontiert waren, ist die Denkweise unserer Regierenden. Das sind Menschen in Machtpositionen, die so weit von der Realität der informellen Arbeiterinnen entfernt sind, dass sie sich diese Realität manchmal nicht einmal vorstellen können.

Wie kann man also die Denkweise ändern? Ich erinnere mich, als wir vor 40 Jahren zum ersten Mal mit einem Politiker über Kinderbetreuung sprachen. Er sagte, was meint ihr mit Kinderbetreuung, ist das nicht etwas, was ihr Frauen zuhause tun sollt? Zum Glück hat sich diese Einstellung geändert und Menschen sehen nun den Zusammenhang zwischen der Verfügbarkeit von Kinderbetreuung und der wirtschaftlichen Unabhängigkeit von Frauen. Aber das ist die Art Bewusstseinswandel, der tiefgreifende Strukturwandel und der Wandel der patriarchalen Werte, der herbeigeführt werden muss.

00:26:23 Susanne Klingner: SEWA stellt also vor allem patriarchale Strukturen infrage, bei Einhorn ist es hingegen das unbedingte Streben nach Gewinn und Profitmaximierung, dass die Mitarbeiter*innen überwinden wollen.

00:26:34 Elisa Naranjo: Also ja, ich glaube die größte Herausforderung wäre wirklich, dass diese Maxime, dass Gewinn über allem steht und das das Einzige ist was wir messen, dass man das anfängt infrage zu stellen. Genau, dass es nicht nur „Shareholder value only“ sein kann, vor allem wenn Shareholders, also Aktionäre, nicht mal innerhalb des Unternehmens sind und trotzdem so eine Macht haben, dann finde ich, ist das ein sehr, sehr komisches Wirtschaftskonstrukt, muss ich ehrlich sagen.

Oh Gott, das ist halt so eine riesige Herausforderung, dass man anfängt, Gewinn nicht als Mittel zum Zweck zu sehen oder ne, warum man Fairstainability macht, warum man neue Formen der Arbeiten ausprobiert, Hierarchiefreiheit ausprobiert. Dass da der Grund dahinter nicht ist, ach dann sind unsere Mitarbeiter, Mitarbeiterinnen, effizienter und dann können die noch mehr Output leisten oder das gut vermarkten, dass wir grün und nachhaltig sind. Sondern, dass der Grund ist, es wirklich ernst zu meinen und so eine Kultur zu schaffen, die es wirklich ernst meint.

Das ist, glaube ich, so ein bisschen auch so ein Kulturwandel, so ein bisschen zu hinterfragen, so wen macht das glücklich, dass irgendwie ein Aktionär jetzt eine super Dividende bekommen hat und passt das? Oder Wollen wir das nicht irgendwie anfangen infrage zu stellen?

00:27:50 Susanne Klingner: Das große Ganze verändern. Puh, das kommt einem ganz schön riesig vor: Häufig haben wir das Gefühl, dass man als kleine Einzelperson daran gar nichts ändern kann. Umso schöner, dass einem Menschen wie Mirai oder Elisa zeigen, dass Veränderungen eben doch möglich sind. Wir müssen nur im Kleinen damit anfangen.

Das war die zweite Folge von zeitgerecht, dem Podcast von Oxfam. In der nächsten Folge beschäftigen wir uns intensiver damit, warum öffentliche Kinderbetreuung wichtig ist für Geschlechtergerechtigkeit. Wir freuen uns, wenn ihr dafür in zwei Wochen auch wieder mit dabei seid.

Die Idee und Konzeption dieses Podcasts sind von Lisa Ruppel. An der Folge haben mitgewirkt: Mara Brückner, Ellen Ehmke, Ulrike Pehlgrimm und Valerie Senden. Schnitt und Sounddesign: Maximilian Lindert. Unterstützt wurden wir von Sabrina Winter und Filip Nohe. Die Titelmusik ist von Paul Ott von Die Tonabnehmer, das Cover von Ole Kaleschke. Es sprachen Susanne Klingner und Ulrike Langer.

Herzlichen Dank an Katrin Rönicke von hauseins für die Unterstützung in der Umsetzung des Podcasts.

Eine gerechtere Welt ist möglich, dafür setzen wir uns bei Oxfam ein. Dabei sind wir auf deine Unterstützung angewiesen, damit wir auch in Zukunft politisch unabhängig bleiben können.

Alle Infos zu Fördermöglichkeiten findest du unter www.oxfam.de/gerechtigkeit-schaffen.

Wenn euch der Podcast gefällt, dann teilt ihn in den sozialen Medien, empfehlt ihn euren Freund*innen und gebt uns eine gute Bewertung, damit auch andere den Podcast finden.

Bis zum nächsten Mal.