Fast alle zwei Tage ein Vertreibungsbefehl
Seit dem Bruch der Waffenruhe hat Israel fast alle zwei Tage einen Vertreibungsbefehl erlassen und die palästinensische Zivilbevölkerung damit in Sperrzonen getrieben, die mittlerweile weniger als 20 Prozent des Gazastreifens ausmachen.
Eine neue Oxfam-Analyse ergab, dass Israel seit dem Bruch der Waffenruhe am 18. März mehr als 30 Zwangsumsiedlungen angeordnet hat – fast alle zwei Tage. Die Massenvertreibungsbefehle kombiniert mit den Militärangriffen haben die Zivilbevölkerung systematisch in fünf Sperrzonen gezwungen, die von Militärkorridoren und dem Meer eingeschlossen sind. Das führt dazu, dass die Bevölkerung de facto in überfüllten und unterversorgten Gebieten eingeschlossen wird.
Allein in einer Woche (15. bis 20. Mai) waren mehr als 160.000 Menschen von den Befehlen betroffen, ein Teil der insgesamt fast 600.000 Menschen, die seit dem 18. März vertrieben wurden. Ein Evakuierungsbefehl am 20. Mai betraf 34,9 km², was etwa 10 Prozent der Fläche des Gazastreifens ausmacht und zur Entwurzelung von 150.000 bis 200.000 Menschen führte. Die Auswirkungen solcher Anordnungen auf die bereits mehrfach vertriebene Bevölkerung sind verheerend.
Das schiere Ausmaß und die unerbittliche Häufigkeit dieser Befehle machen es für die Menschen praktisch unmöglich, Zuflucht zu finden. Das Muster deutet darauf hin, dass es nicht darum geht, eine Bedrohung zu neutralisieren, sondern um einen Prozess der Zwangsumsiedlung.
Anzeichen der systematischen Räumung des Gazastreifens
Bushra Khalidi, Oxfams Leiterin für Politik in den besetzten palästinensischen Gebieten, sagt:
Es ist die Zivilbevölkerung, die täglich vertrieben und bombardiert wird.
Es ist die Zivilbevölkerung, die täglich vertrieben und bombardiert wird. Die Vertreibungsbefehle folgen einem klaren und kalkulierten Muster: Die palästinensische Bevölkerung in immer kleiner werdende Sperrzonen zu treiben. Das ist keine Terrorismusbekämpfung, wie Israel behauptet – es ist die systematische Räumung des Gazastreifens durch militarisierte Gewalt.
Die israelischen Evakuierungsbefehle, gefolgt von Militärschlägen, dienen offenkundig dazu, die Kontrolle über den Gazastreifen zu übernehmen. Sie sind im Zusammenhang mit den kürzlich von Israel eingerichteten „humanitären“ Zentren zu sehen, in denen die Zivilbevölkerung unter bewaffneter Bewachung Hilfe von privaten Auftragnehmern erhalten soll. Tatsächlich erreicht diese Hilfe aber nur wenige Menschen und entspricht nicht dem humanitären Bedarf. Zudem birgt das System mit viel zu wenigen Verteilstellen für die notleidende Bevölkerung zusätzliche Strapazen und Gefahren. Oxfam und andere internationale Organisationen haben dieses Vorgehen entschieden als unvereinbar mit humanitären Grundsätzen zurückgewiesen.
Fidaa Alaraj, Oxfams Gender-Beraterin in Gaza, wurde mit ihrer Familie schon mehrfach vertrieben: „Stellen Sie sich vor, Sie müssten mitten in der Nacht mit vier Kindern oder einem älteren Elternteil umziehen, ohne Transportmittel und ohne ein sicheres Ziel. Die Menschen sind so erschöpft, dass viele lieber dem Tod ins Auge sehen würden, als erneut zu fliehen.“
Humanitäre Situation in den verbleibenden 20 Prozent des Gazastreifens
Die von Israel ausgewiesenen „Schutzräume“, darunter Al-Mawasi, sind Camps, die keinen wirklichen Schutz bieten. Al-Mawasi ist ein unwirtlicher Küstenstreifen von etwa 40 Quadratkilometern, in dem vor dem Krieg nur 7.000 Menschen lebten und nun als Umsiedlungsort für Hunderttausende ausgewiesen wurde. Trotz der Einstufung als sichere Zone wurde er wiederholt von israelischen Angriffen getroffen.
In fast allen verbleibenden Gebieten, in die die Zivilbevölkerung zwangsumgesiedelt wird, fehlt es an sauberem Wasser, sanitären Einrichtungen, medizinischer Versorgung und grundlegender Infrastruktur. Diese Realität stellt einen Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht dar.
„Das Blutvergießen muss ein Ende haben. Es ist längst an der Zeit, dass westliche Regierungen Druck auf Israel ausüben, um die Belagerung und die Pläne zur Annexion des Gazastreifens zu beenden. Auf dem Spiel steht auch die Integrität jeder Nation, die behauptet, das Völkerrecht zu achten.“, fügt Khalidi hinzu.
Redaktionelle Hinweise
- Oxfams Video visualisiert das Muster der israelischen Vertreibungsbefehle.
- Oxfam analysierte alle Evakuierungsanordnungen, die Israel zwischen dem 18. März und dem 26. Mai 2025 im Gazastreifen erlassen hat. Insgesamt waren es 31 Anordnungen, im Durchschnitt eine Anordnung alle 2,3 Tage. An einigen Tagen erließ Israel mehrere Anordnungen innerhalb von 24 Stunden.
- Um den Umfang und den Zeitpunkt der israelischen Evakuierungsbefehle im Gazastreifen zu bewerten, hat sich Oxfam auf eine Reihe von Quellen gestützt, darunter die UNOCHA-Website und die offizielle FB-Seite von Israel COGAT GAT.
- Laut der OCHA-Webseite zu Vertreibungsanordnungen stehen seit dem 18. März 2025 81 Prozent (365 km²) des Gazastreifens unter Evakuierungsanordnungen oder sind Militärzonen.
- Nur 19 Prozent (ca. 70 km²) des Gazastreifens fallen nicht unter diese beiden Kategorien, wie die Karte von UNOCHA zeigt.
- Daten zum Evakuierungsbefehl vom 20. Mai 2025 wurden dem Joint Humanitarian Operation Centre (JHOC) Update #6 (20. Mai, 2025) entnommen.
- Zwischen dem 20. Mai 13:00 Uhr und dem 21. Mai 13:00 Uhr 2025 wurden schätzungsweise 22.548 Personen vertrieben. Die geschätzte Gesamtzahl der seit dem 15. Mai vertriebenen Personen beträgt 161.506, die geschätzte Zahl der seit dem 18. März vertriebenen Personen 599.104 Personen. Quelle: The Site Management Cluster Update (15-21. Mai 2025).
- Al-Mawasi" hat eine Fläche von etwa 41 Quadratkilometern, in der es nach Angaben des UN-Büros für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) an kritischer Infrastruktur und Dienstleistungen fehlt (10. September 2024).
- Nach Artikel 49 der Vierten Genfer Konvention (1949) darf eine Besatzungsmacht Zivilisten nur aus Gründen ihrer eigenen Sicherheit oder aus zwingenden militärischen Gründen evakuieren, und selbst dann muss die Maßnahme vorübergehend sein und eine sichere Rückkehr ermöglichen. Gleichzeitig sind die Besatzungsmächte nach Artikel 55 und 56 verpflichtet, den Vertriebenen angemessene Ernährung, medizinische Versorgung, Hygiene und Unterkunft zu gewährleisten.