

Krieg, Hunger und humanitäre Prinzipien in Gaza
Das enorme Leid der Menschen in Gaza wächst weiter, denn die israelische Regierung bombardiert Unterkünfte und Kliniken und blockiert humanitäre Hilfe. Die Bundesregierung muss jetzt handeln: die Zukunft von Völkerrecht und Menschenwürde stehen auf dem Spiel.
Die humanitäre Katastrophe im Gazastreifen dauert nun schon seit mehr als anderthalb Jahren an. Krieg, Hunger und Vertreibung haben inzwischen weit über 50.000 Todesopfer gefordert. Dazu gehören auch die mehr als 1.200 Menschen, die am 7. Oktober und danach durch das Massaker der Hamas und anderer bewaffneter palästinensischer Gruppen am 7. Oktober 2023 in Israel gestorben sind, sowie hunderte Palästinenser*innen im Westjordanland, die seit Ende 2023 bei israelischen Militäroperationen und durch Siedlergewalt ums Leben gekommen sind.
Inzwischen hält dieser Krieg nicht nur Palästina und Israel, sondern eine ganze Region im Griff. Denn bei Angriffen der israelischen Armee im Libanon, Syrien und Jemen sowie umgekehrt durch dortige Milizen auf Israel sind ebenfalls viele Unschuldige gestorben, verletzt oder vertrieben worden.
Eine einzigartige Katastrophe
Und doch ist die Katastrophe im Gazastreifen in vielerlei Beziehung einzigartig. In keinem anderen Krieg der Gegenwart sind in einem vergleichbaren Zeitraum mehr Kinder und Frauen getötet worden. Nirgendwo sind auch mehr humanitäre Helfer*innen und Journalist*innen durch Kampfhandlungen gestorben. Nirgendwo sonst werden Hunger und Wassernot als Kriegswaffe so systematisch eingesetzt wie im Gazastreifen.
Jeden Tag wache ich auf und frage mich, ob ich heute wieder jemanden verlieren werde.

Täglich verändert sich die Lage, immer neue diplomatische und humanitäre Bemühungen werden verkündet – doch eines ist unverändert geblieben: Das Leid und die Perspektivlosigkeit der über zwei Millionen Frauen, Männer und Kinder, die nicht mehr wissen, wo sie Schutz vor den Bomben und das allernötigste zum Überleben finden können.
Israel blockiert humanitäre Hilfe
Rund 1,95 Millionen Menschen leiden an akuter Nahrungsmittelunsicherheit – das sind 93 Prozent der Bevölkerung. Internationale Expert*innen für die Beurteilung von Hungersituationen haben Mitte Mai für ganz Gaza die zweithöchste Stufe 4 (876.000 Betroffene) und für Nord-Gaza die höchste Stufe 5 (345.000 Betroffene) für Hunger erklärt. Im Klartext: Die Menschen in Gaza stehen am Rande einer Hungersnot.
Unabhängige Hilfsorganisationen haben seit fast drei Monaten keine Hilfsgüter mehr in den Gazastreifen transportieren und verteilen können. Oxfam kann zum Beispiel lediglich mittels unserer Partner vor Ort noch etwas Wasser und finanzielle Soforthilfe bereitstellen. Große Mengen an dringend benötigten Hilfsgütern wie Wasseraufbereitungsanlagen stecken seit Wochen und Monaten vor den Grenzübergängen fest.
Denn während Israel Wohnunterkünfte und Kliniken bombardiert, blockiert es weiterhin humanitäre Hilfe. Auch wenn einige LKWs mit Hilfsgütern in das abgeriegelte Gebiet gelangen – die Hilfe umfasst nur einen Bruchteil der benötigten Menge, entspricht nicht dem Bedarf und kommt bislang kaum bei den Menschen an.
Israel scheint im Moment auch gar nicht zu beabsichtigen, humanitäre Hilfe für Gaza nach international anerkannten Standards zuzulassen. Die Regierung hat stattdessen begonnen, die Hilfe durch das eigene Militär zu koordinieren und von einer fragwürdigen kommerziellen Organisation verteilen zu lassen. Die Vereinten Nationen sowie humanitäre Organisationen wie Oxfam sind von diesem Mechanismus weitgehend ausgeschlossen. Eine unabhängige Kontrolle darüber, ob die Hilfsgüter wirklich in ausreichender Menge und Qualität an die am meisten unterstützungsbedürftigen Personen verteilt wurden, ist so nicht möglich.
Dieses Vorgehen verstößt eklatant gegen die international geltenden humanitären Prinzipien:
- Menschlichkeit
- Unabhängigkeit
- Unparteilichkeit
- Neutralität.
Die Vereinten Nationen sowie Oxfam und andere humanitäre Akteure haben es deshalb scharf kritisiert. Die deutsche Bundesregierung, die sich traditionell als Verfechterin universaler Werte und des Völkerrechts verstanden hat, hat dennoch Mitte Mai erklärt, Israel dabei unterstützen zu wollen.
Der internationale Druck wächst
Gleichwohl wächst der internationale Druck auf Israel, dessen völkerrechtlichen Verpflichtungen stärker nachzukommen. 22 Staaten haben gefordert, unbeschränkte humanitäre Hilfe zuzulassen. Großbritannien, Frankreich und Kanada haben sogar Sanktionen gegen Israel angedroht. Die EU will das israelische Vorgehen menschenrechtlich prüfen und könnte am Ende zumindest theoretisch Sanktionen beschließen.
Und auch aus Berlin kommt inzwischen Kritik an der Regierung Netanjahu. Der deutsche Außenminister Johann Wadephul hat sogar deutsche Waffenlieferungen an Israel infrage gestellt. Ein Grund für diesen Sinneswandel könnte die öffentliche Meinung sein. Einer jüngsten Umfrage zufolge halten 80 Prozent der Befragten den israelischen Militäreinsatz aufgrund dessen hohen Zahl an Opfern unter der palästinensischen Zivilbevölkerung für nicht gerechtfertigt.
Vielleicht hat sich die neue Bundesregierung aber einfach auch an ihren eigenen Koalitionsvertrag erinnert, in dem sie sich zur „Bewahrung und Weiterentwicklung der regelbasierten internationalen Ordnung auf der Basis des Völkerrechts, der universellen Geltung der Menschenrechte und der Charta der Vereinten Nationen“ bekannt hat.
Es geht auch um die Zukunft des Völkerrechts
Nun wäre in der Tat die Zeit gekommen, diese hohen Worte in die Praxis zu überführen. Im Gazastreifen und übrigens auch im Westjordanland wird nämlich nicht nur ein Krieg gegen feindliche Parteien, sondern auch um die Zukunft des Völkerrechts und humanitärer Werte geführt.
- Wann stehen die eingesetzten militärischen Mittel zur Erreichung legitimer militärischer Ziele nicht mehr im Verhältnis zu den von ihnen hervorgerufenen zivilen Opfern?
- Dürfen die humanitären Prinzipien politischen und militärischen Interessen untergeordnet oder sogar gänzlich geopfert werden?
- Dürfen große Teile der palästinensischen Bevölkerung vorgeblich aus Gründen der nationalen Sicherheit vertrieben und das von ihnen bewohnte Gebiet dauerhaft besetzt oder sogar annektiert werden?
Diese und ähnliche Fragen sind in den vergangenen eineinhalb Jahren zum Gegenstand eines erbitterten Streits zwischen Jurist*innen, Politiker*innen, Menschenrechtler*innen und humanitären Expert*innen geworden.
In der Theorie wäre dies alles keine Frage. Der Internationale Gerichtshof (IGH) hat im Januar 2024 in einem von der Republik Südafrika angestrengten Verfahren gegen Israel zahlreiche Belege für schwere Kriegsverbrechen aufgeführt und konkrete Bedenken hinsichtlich der Gefahr eines Völkermords in Gaza geäußert. Die in dem IGH-Beschluss ebenfalls enthaltene Aufforderung, ausreichend humanitäre Hilfe in den Gaza-Streifen zu lassen, hat die israelische Regierung jedoch ignoriert.
Im Juli 2024 hat der IGH ferner in einem Gutachten unmissverständlich festgestellt, dass die jahrzehntelange israelische Besatzung des palästinensischen Gebiets völkerrechtswidrig ist. Tatsächlich vertreibt die Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu in der Westbank zahlreiche palästinensische Gemeinschaften von ihrem Land, treibt den völkerrechtswidrigen Siedlungsbau massiv voran, und plant anscheinend, auch weite Teile des Gazastreifens dauerhaft zu besetzen oder zu annektieren.
Was bedeutet dies alles für die neue Bundesregierung?
- Die Bundesregierung muss der jahrzehntelang von Deutschland gepflegten politischen Tradition von internationaler Rechtsstaatlichkeit und Multilateralismus folgen und der aktuellen Erosion des Völkerrechts, der Menschenrechte und der humanitären Prinzipien entschlossen entgegentreten. Dies muss sie sowohl in ihren bilateralen Beziehungen als auch auf EU-Ebene und darüber hinaus umsetzen.
- Sie muss sich aktiv für die Beendigung von Völkerrechtsbrüchen und Kriegsverbrechen einsetzen und wirksame Maßnahmen ergreifen. Dazu gehört auch sicherzustellen, dass sie selbst nicht an solchen Rechtsverletzungen beteiligt ist. Die Lieferung von deutschen Waffen an Israel, die in völkerrechtswidriger Weise in Palästina einschließlich Gaza eingesetzt werden, muss deshalb sofort gestoppt werden.
- Sie ist aufgefordert, Demokratie und freie Meinungsäußerung im eigenen Land nicht im Zeichen einer falsch verstandenen politischen Solidarität zu untergraben, indem in Deutschland legitime Proteste von Seiten der Zivilgesellschaft gegen den Krieg in Gaza teilweise unverhältnismäßig eingeschränkt werden.
So zu handeln, würde einer richtig verstandenen Staatsräson entsprechen, denn Menschenwürde und Menschenrechte sind unteilbar – in Palästina, Israel, Deutschland und weltweit.